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Snowcrash und die elektrische Hexe

Es war einmal, in einer kaputten Stadt, eingepfercht zwischen zwei zerstörten Atomkraftwerken, eine Monitor-Service-Angestellte von einer gewissen Hässlichkeit. Sie nannte sich Snowcrash, denn das Erste, an das sie sich erinnern konnte, der erste Screenshot ihres Lebens, war das Rauschen eines Monitors, wie Schneegestöber, wie ein Schneesturm aus schwarzen und weißen Pixeln, durch den sich von oben bis unten ein Riss zog.

An einem Abend, sie war gerade von einer nicht enden wollenden Schicht nach Hause gekommen, ihre Geräte, die sie noch auf dem Rücken hatte, standen wie Tentakel zu allen Seiten ab, ihr Mantel noch tropfend und glitzernd vom sauren Regen, da meldete sich das Neocom mit einem Dringlichkeitsalarm. ‚Nicht jetzt‘, dachte sich Crash, warf ihr Zeug ab und ließ sich in ihren Ohrensessel fallen, der wie eine alte Federkernmatratze knarzte. Eine grüne Feinstaubwolke stob unter dem Sessel hervor wie ein nuklearer Furz.

© Saskia Overath

Snowcrash in ihrem Ohrensessel // © Saskia Overath

‚Neocom aktivieren‘, flüsterte Crash fast. Sie brauchte nicht laut zu sprechen, sie brauchte eigentlich gar nicht sprechen. Eine Lippenbewegung würde reichen, damit das System ahnte, welchen Befehl sie gab. Der Monitor vor ihr flackerte und sprang an, eine kleine Animation erschien, auf die sie ein bisschen stolz war: Auf einem schwarzen Hintergrund erschienen viele weiße Pixel, die wie wild herumsprangen und nach einer Sekunde ihren Namen bildeten, Snowcrash. Verdammt coole Intro, dachte sie sich, skippte weiter zum Statusscreen, öffnete die Messages und sah die Meldung. Sie zögerte. Sie hatte gerade echt keinen Bock auf einen Notfall. ‚Irgendein Screener der seine Pornos nicht schauen kann, oder so. Warum kann der nicht bis Morgen warten?‘

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Kurze Zeit später verließ sie die Trans-Bahn, deren einziger Passagier sie gewesen war. Ihre Stiefel klapperten, als sie die Treppen hinaufstieg, zurück in den sauren Regen, in die Nacht, in die oberirdische, verrückte Stadt. Alles war nass und alles reflektierte die Reklametafeln und den Schein der vielen Werbemonitore. Block 9000, Ecke Curlington Street. Noch 5 Minuten zu Fuß. Sie drückte vor dem Gebäude die Klingel, auf der nur die Apartmentnummer stand und wartete. Sie spürte, wie ihre Füße in den säureresistenten Stiefeln pulsierten. Zu viele Schritte auf diesen durchgelatschten Sohlen für heute.

Ein Brummen, die Tür schnappte auf und sie trat in das gewaltige Treppenhaus. Dioden emittierten kühles Licht. Sie waren lieblos an die Wände geklebt worden. Snowcrash schlug die Kapuze ihres Mantels zurück, eine Strähne ihres schwarzen Haares hing ihr ins Gesicht. Der Aufzug brachte sie in die achtzigste Etage und als sie in den Flur trat, merkte sie wie müde sie war. Sie konnte kaum die Augen aufhalten. ‚Stell dich nicht so an, Crash.‘ sagte sie sich.

„Systemrecovery aufspielen, Kanäle testen und dann wieder raus. 10 Min max.“

Sie sah sich schon in der Trans nach Hause fahren. Als sie schließlich vor der Tür stand, hörte sie leise Musik. Ein schwacher Schein kam unter dem Türspalt hervor. Crash drückte die Klingel und im selben Moment durchstieß sie ein Elektroschock. Es folgte ein pulsierender Schmerz, der auf der Stelle alle Muskeln lähmte. Sie sackte zu Boden und konnte sich nicht mehr rühren.

Doch sie war bei vollem Bewusstsein.

Einen Moment später sah sie, wie die Tür geöffnet wurde. Jemand lugte zwischen dem Türspalt hervor. Viele kleine Lichter befanden sich dort, wo das Gesicht hätte sein sollen. Eine gelbe Diode, ein roter Laser, ein grünes LED Display, blinkend und pulsierend. Sie schienen Snowcrash zu scannen. „Ja wen haben wir denn da?“ hörte sie jemanden sagen, mit einer alten und rauen Stimme. Die Tür ging weiter auf, sie spürte, wie sie an einem Bein gepackt und über die Schwelle gezogen wurde. Die Tür ging automatisch wieder zu und zischte, als sie verriegelt wurde. Innerhalb des Apartments war es stickig und es roch nach verbranntem Staub.

Crash lag auf dem Rücken und sah die Zimmerdecke: Schläuche und Rohre, die kreuz und quer übereinander und untereinander her führten. Die Kabel und Glasfaserleitungen, Platinen, Abdeckungsplatten und wackelnde Ventilationslamellen bildeten einen merkwürdig lebendigen Teppich. Crash erholte sich ein wenig von dem Schock, als sie quer durch den Raum geschleift wurde. Jemand kicherte, und Crash meinte etwas Vorfreude in diesem Kichern zu hören. Aber an diesem Kichern war noch etwas anderes: Es klang wie mit einem Overdrive getuned, irgendwie künstlich, aber definitiv weiblich. Ihr Bein wurde losgelassen und plumpste zu Boden, sie waren irgendwo angekommen. Da beugte sich jemand über Snowcrash und sie erkannte eine alte Frau. Ein Laserstrahl, der von der Aperatur ausging, die die Alte in ihrem Gesicht trug, scannte Snowcrashs rechtes Auge.

„Gut, gut, was haben wir denn da?“

Die Alte tastete Snowcrashs Schädel ab. Ihre Handschuhe waren mit Elektroden beklebt und jedesmal, wenn sie damit Crashs Kopfhaut berührte, kribbelte es.

„Enzephalogramm OK. Ein bisschen dürr vielleicht, was? Dass ihr Mädchen nichts mehr esst! Ihr seid so dünn, ihr schafft keine zwei Wochen mehr. Dir gebe ich eine.“

Die Alte seufzte enttäuscht, fummelte jetzt an Crashs Arm herum und stach etwas hinein. Der Schmerz war da, aber Crash konnte einfach nicht zusammenzucken.

„Du musst fetter werden! Dein Gehirn braucht Energie!“

Die Alte schnaubte. Da spürte Crash wie etwas ihren Arm hinauf krabbelte, aber es war nicht auf der Haut, es war unter der Haut. Ein Entsetzen überkam sie, Panik stieg in ihr auf und da konnte sie endlich wieder etwas bewegen, nachdem sie von der Türklingel den Elektroschock verpasst bekam: Sie blinzelte. Im selben Moment wich die Alte zurück, so als hätte das Blinzeln eine Push-Nachricht an sie geschickt. Da warf sich die Alte auf Crash und presste die Hände auf ihren Brustkorb, an denen sich ähnlich wie auf dem Gesicht der Alten so allerlei Teile befanden. Erst zerbrach etwas, dann erneut ein entsetzlicher Elektroschock. Das war zuviel für Crash und sie verlor das Bewusstsein.

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Als Snowcrash wieder zu sich kam, konnte sie sich wieder bewegen. Zumindest hätte sie es gekonnt, wenn sie nicht auf irgendeiner Art Apparatur festgeschnallt gewesen wäre. Sie testete ihre Muskeln und spürte, wie sie sich zusammenzogen und wieder entspannten. Sie konnte auch ein wenig sehen, aber alles war verschwommen.

Als Crash sich umsah, was sie tat, in dem sie die schmerzenden Augäpfel bewegte, konnte sie sich nur schwer einer weiteren Panik-Attacke entziehen. Sie war in einen Alkoven gegurtet und überall an ihr hingen Kabel und Schläuche. Auf ihrem Kopf war irgendetwas schweres, ihre Kopfhaut kribbelte wie verrückt und sie wollte sich unbedingt kratzen, aber sie konnte nicht. Es war ein schreckliches Gefühl. Als sie den Blick hob, sah sie einen weiteren Alkoven, in dem noch jemand festgegurtet war. Sie konnte nicht erkennen, ob die Person noch lebte oder nicht. Auf jeden Fall war sie völlig ausgemergelt, wie ausgesaugt. Auf ihrem Kopf trug sie eine Apparatur wie eine Krone und über ihr Gesicht lief eine dicke, fast schwarze Flüssigkeit, die auf den versifften Boden troff. Die Haut war wie Papier, zerknittert und beschmiert. ‚Wie Jesus‘, dachte Crash. Da überkam sie eine tiefe Traurigkeit und ein Gefühl der Verlorenheit überwältigte sie. ‚Wo bin ich hier nur gelandet?‘ Sie weinte eine Weile und als sie keine Tränen mehr hatte, schlief sie ein.

Crash wusste nicht, ob sie es nur träumte, oder ob sie wach war. Sie hatte das Gesicht der Alten vor sich, spürte ihre prüfenden Berührungen, hörte ihre seltsame Stimme, ein Meckern, das Fauchen. Dieses Fauchen! Dann war sie wieder weg und hinterließ einen beißenden oder bitteren Geruch wie Ozon. Erinnerte sie sich immer wieder an die gleiche Situation, oder waren es unendlich viele? Entweder war sie in einem Raum-Zeit-Kontinuum oder sowas gefangen, oder sie wurde so langsam verrückt.

Als Crashs‘ Bewusstsein etwas klarer wurde, spürte sie wie wütend sie war. ‚Was zum Teufel geht hier ab!?‘ Sie fing an ihre Muskeln zu benutzen, spannte sie an, entspannte sie, spannte an, entspannte. Mit ihrem linken Arm hatte sie etwas Spiel zwischen Band und Haut. Der Schweiß half etwas. Systematisch arbeitete sie an diesem Spiel, versuchte ihn zu vergrößern und bildete sich ein Fortschritte zu machen.

Dann geschah es: Das Band löste sich und ihr Arm fiel schlaff herunter und baumelte nun frei herum. Wie lange hatte sie dafür gebraucht? Sie wusste es nicht. Ein Gefühl des Triumphes überkam sie. Als sie wenig später alle Bänder gelöst, die Infusion entfernt und die Elektroden abgerissen hatte und sie auf allen Vieren auf dem Boden hockend langsam den Kopf hob, sah sie sich direkt in die Augen. Was sie zuvor gesehen hatte, war kein weiterer Alkoven, es war ein Spiegel und sie sah sich selbst. ‚Mein Gott siehst du scheiße aus.‘ Wie lange war sie schon in diesem verdammten Appartement? ‚Diese alte … Hexe!‘ sagte Snowcrash. Sie war wütend und versuchte sich aufzurappeln, denn die Alte würde sicher jeden Moment hereingestürmt kommen.

Als die Alte kam, hatte sich Snowcrash bereits neben einem dicken Kabelkanal an die Wand gedrückt. Sie umklammerte mit ihrer rechten Hand einen Splitter, den sie irgendwo zwischen Schläuchen und Kabeln gefunden und mit Stoff umwickelt hatte. Jetzt ließ sie sich von hinten auf die Hexe fallen und stieß den Splitter mit ihrem ganzen Gewicht in den Rücken der Hexe. Diese Schrie auf und wirbelte im Fallen herum. Crash führte einen zweiten Stoß aus, den die Alte mitten im Gesicht traf. Sie musste irgendeine elektrische Komponente getroffen haben, denn es kam zu einem Kurzschluss und zu einer heftigen Entladung, die sie beide in gegensätzliche Richtungen warf.

——–

Als Crash aufwachte, bekam sie kaum noch Luft. ‚Es brennt irgendwo,‘ dachte sie. ‚Brennt es hier? Es brennt!‘ Sie rappelte sich auf und sah wie die Hexe brannte. Flammen schlugen bereits aus der Apparatur, in die sie zuvor geschnallt gewesen war. Es war noch immer Saft drauf, denn es zischte und Funken stoben hier und dort hervor. Mit zitternden Knien stellte sich Crash neben die brennende Leiche und sah auf sie herab. „Dann doch lieber Porno-Scanner,“ dachte sie sich. Sie suchte ihr Zeug zusammen und hätte sich gerne in Ruhe im Apartment dieser kranken Alten umgesehen. Aber der Feueralarm musste längst die Techniker alarmiert haben und sie hatte absolut keine Lust auf Fragen. Hustend entriegelte sie die Tür und trat auf den Flur. Rauchschwaden zogen heraus, Funken sprühten, als durch den zusätzlichen Sauerstoff das Feuer angefacht wurde. Als sie aus dem Aufzug und auf die Straße trat, kam ihr der ewige saure Regen wie eine Erlösung vor. Die nasse Straße reflektierte die blinkenden Reklametafeln.

Crash stand in ihrem Apartment und konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. „Diese verdammte Hexe“, dachte sie sich, als sie einfach alles von sich abstreifte, ihre Werkzeuge, den Mantel, ihre Klamotten und sich zur Dusche schleppte. Sie wusch den ganzen Schmutz von ihrem brennenden Körper ab, schäumte sich mehrmals ein und hatte dennoch das Gefühl noch immer nicht wirklich sauber zu sein.

27. Dezember 2015, DROID BOY

Mein herzlicher Dank geht an Saskia Overath für die wunderbare Illustration, die sie für dieses Märchen extra entworfen hat.

Der passende Soundtrack dazu:

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