Das Digitale Fließband

An einem der ersten richtigen Wintertage Ende November radle ich auf feuchtem Laub über den Brüsseler Platz, vorbei an kitschigen Cafes zur Rechten, der St. Michaelskirche zur Linken. Ich bin auf dem Weg zu den Moltkehöfen. Dort treffe ich Michael Prothmann, mit dem ich mich über Grey, Boris Becker, die ersten deutschen E-Commerce-Versuche und heutige Digitalisierungs-Bemühungen unterhalte.

Erläuterungen zum Begriff Digitalisierung

Kurz nach Veröffentlichung dieses Interviews gab es Kommentare über die ungenaue Definition des Begriffs Digitalisierung. Insbesondere sei der Wikipedia-Artikel irreführend, da erste Anzeichen eines technischen Umsetzens nicht das Zeitaklter der Digitalisierung einläute. In der Tat gibt es durch die inflationäre Verwendung des Begriffs immer mehr Meinungen zum Begriff. Etwas klarer wird es, wenn man den Wikipedia-Artikel über die Digitale Revolution vornimmt. Der Artikel zur Digitalisierung wird auch innerhalb der Community kritisch gesehen und bedarf einer Überarbeitung. Für diesen Text selbst spielt die Genauigkeit des Begriffs eher eine untergeordnete Rolle. Es geht eher um das Beleuchten eines Prozesses und wie der Mittelstand damit umgehen könnte.

DROID BOY: Hallo Herr Prothmann. Wo waren Sie als Steve Jobs 2007 auf der Apple Keynote das erste iPhone vorstellte?
Michael Prothmann (überlegt kurz): Ich saß mit meinen Kollegen von Obi zusammen in Warschau. Wir hatten damals alle Palms und wir wollten das auf keinen Fall verpassen.
DROID BOY: Obi, Sie meinen den Baumarkt? Und warum Warschau?
Michael Prothmann: Ja, für Obi war E-Commerce damals schon ein sehr wichtiges Thema und wir waren dabei das europaweit umzusetzen. Interessanterweise waren die Partner aller Länder außerhalb Deutschlands interessierter als die großen Franchise-Nehmer in Deutschland. Darum Warschau.
DROID BOY: Also sie schauten sich die Apple-Keynote gemeinsam an, weil sie Business-Leute mit teuren Gadgets waren, oder hatte das was mit Obi zu tun?
Michael Prothmann: Die Keynote war ein Paukenschlag, das konnten wir im Vorfeld natürlich nicht ahnen! Aber die Gerüchteküche brodelte ja schon Monate zuvor. Wir waren begeisterte Technologie-Fans. Wir spürten damals schon, das sich jetzt etwas verändern würde. Für Viele war das wie ein Startschuss. Die Digitalisierung würde sich nun richtig auf den Konsumenten-Markt auswirken. Daher war das für uns relevant.

Grey und der Apple II

DROID BOY: Laut Wikipedia sind die ersten historischen Anzeichen der Digitalisierung schon 1829 die Erfindung der Braille-Schrift und 1837 das Morsen. Wann war ihre erste Begegnung mit Digitalistan?
Michael Prothmann: Wenn man Digitalisierung so versteht, dann war das direkt nach meinem Studium in Köln. 1988 ging ich als Trainee zu Grey nach Düsseldorf. Grey war damals die größte Werbeagentur und es gab einen Apple II, der zufälligerweise in der Abteilung Strategische Planung stand, in der ich arbeitete. Mein Chef war ein totaller Apple-Fanboy, wie man heute sagen würde. Den haben alle für verrückt gehalten.
IMG_0982_kleinDROID BOY: Da war ich sieben Jahre alt. Was haben Sie denn damit gemacht?
Michael Prothmann: Wir haben sehr viel damit gemacht: Wir haben Charts erstellt, Präsentationen und Kalkulationen erstellt. Alles, was vorher mit der Schreibmaschine und dem Taschenrechner gemacht wurde haben wir blitzschnell und viel schöner mit dem Apple gemacht. Nach einem halben Jahr kam der CEO und wollte auch einen haben. Und nach einem Jahr fingen wir dann an auch andere Abteilungen damit auszustatten. Ab da war eigentlich klar, dass das die Zukunft ist.

Bin ich denn schon drin?

DROID BOY: Wie ging es weiter?
Michael Prothmann: Das Thema Computer war eine Sache. Als dann aber das Internet kam, gründeten wir 1995 oder 96, das weiß ich nicht mehr so genau, die erste Internetagentur. Unser erster Auftrag war für Procter& Gamble, für die wir eine Internetseite bauten. Die Agentur wuchs dann sehr schnell und wir kamen nicht mehr hinterher. Uns fehlte das Know-How, darum holten wir uns Leute vom Markt und vereinbarten eine Kooperation. So sind dann die Argonauten entstanden.
DROID BOY: Das war zu der Zeit, als man anfing „drin“ zu sein.

Michael ProthmanniConsultants GmbH

Top Management Berater in Köln mit über 25 Jahre Praxiserfahrung bei führenden Unternehmen in Bereich Strategie, Marketing, Sales und eBusiness.

Michael Prothmann: Genau! An den Spot mit Boris Becker kann ich mich noch gut erinnern.
DROID BOY: Wer nicht …
Michael Prothmann: Na ja, unser Creativ-Director hatte damals noch keine Ahnung vom Internet, was letztendlich sehr gut war, weil er die nötige Distanz hatte. Er hatte die Idee mit Boris Becker, der populär und gleichzeitig technisch nicht versiert war. Damals war es noch so, das es echt schwer war überhaupt ins Netz zu kommen, also technisch. Wir haben dann das zentrale Kundenbedürfnis fokussiert: Das Wichtigste ist doch erst mal das man drin ist. Daraus entstand die Kern-Idee: Mit AOL kommst du ganz schnell rein. Und dann haben wir den Spot gemacht.
DROID BOY: Ein Meileinstein der Internetgeschichte!

Erste Gehversuche des E-Commerce

DROID BOY: Wie ging es dann weiter?
Michael Prothmann: Für mich ging es im erweiterten Vorstand für Marketing und Vertrieb bei Karstadt weiter. Ich war für alle 5 Sortimentbereiche und für 200 Warenhäuser zuständig und wir sollten mit 85 Mann das Thema E-Commerce aufziehen. Wir hatten 95% des Warenangebots abgebildet, der größte Internetshop, den es seinerzeit gab.
DROID BOY: Und wie lief’s?
Michael Prothmann: Wir haben ordentlich Lehrgeld bezahlt.
DROID BOY: Warum das?
Michael Prothmann: Dafür gab es zwei Gründe. Zum Einen war das Thema Online-Shopping um die Jahrtausendwende einfach noch nicht bei den Verbrauchern angekommen. Die wollten das einfach nicht. Zum Anderen gab es ein Kommunikationsproblem. Unser Shop war im Grunde auch nichts anderes als ein Katalog, wie es ihn bei Neckermann, Otto und Co gab. Wir hatten es nicht geschafft den Vorteil darzustellen und das Angebot attraktiv zu machen. Wir waren unserer Zeit einfach weit voraus.

DROID BOY: Woran haben Sie das gemerkt?
Michael Prothmann: Als wir den Shop gelauncht hatten liefen CDs, Schallplatten und Bücher gut. Dann haben wir uns gedacht: Matratzen laufen in den Warenhäusern gut, das muss auch online funktionieren. Das funktionierte aber gar nicht. 5 Jahre später war die Matratze dann der erfolgreichste Artikel des Karstadt Online-Shops. Was haben wir daraus gelernt? Die Idee kann noch so gut sein, das System noch so perfekt, am Ende entscheidet der Konsument. Das erleben wir gerade auch im Bereich Food. Bis dato war es völlig undenkbar frische Nahrungsmittel online zu bestellen. Jetzt erleben wir, wie die letzte Bastion des E-Commerce fällt, weil die Kunden Lust darauf bekommen.

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DROID BOY: Am Anfang unseres Gesprächs erwähnten Sie Obi und wie das Interesse europäischer Nachbarländer an E-Commerce größer war als in Deutschland. Hat sich das in der Zwischenzeit verändert?
Michael Prothmann: Ich denke, was dort eine Rolle spielte, war die Verbindung des stationären Handels zum Kunden. In Polen hatten wir circa 35 Märkte, in Deutschland 350. Das Internet war für die Polen also die Möglichkeit auch an Kunden heran zu kommen, für die es in ihrer Nähe keinen Obi Markt gab. Im Umkehrschluss fällt es den Deutschen schwer in diese digitale Welt zu springen, denn sie haben ja ein sehr gut funktionierendes System.
DROID BOY: Warum ist das so?
Michael Prothmann: Weil sie Angst haben ihr Geschäft zu verlieren.
DROID BOY: Angst war noch nie ein guter Ratgeber.
Michael Prothmann: Deutschland ist durch harte Arbeit, durch kluges Wirtschaften und intelligente Unternehmensstrategien sehr erfolgreich. Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. Das bedeutet aber auch, das wir nicht gelernt haben zu scheitern und loszulassen. Das wir da etwas aufzuholen haben und es einen Bedarf danach gibt, zeigt das neue Event-Format FuckUp Night. Gerade in der Startup-Szene wird richtig Gas gegeben eine Kultur des Scheiterns aufzubauen. Wir müssen uns verabschieden von der Verkrampfung der “Null-Fehler Toleranz” und eine neue Geisteshaltung etablieren. “Fail forward” nennen das die Amerikaner.

Linktipp: FuckUp Nights Cologne

DROID BOY: Wie ging dann ihre persönliche Digitalisierungsgeschichte weiter?
Michael Prothmann: Ich bekam das Angebot das kurz vor der Insolvenz stehende Kölner Möbelgeschäft Pesch zu sanieren.
DROID BOY: War das eine Konsequenz der Digitalisierung?
Michael Prothmann: Nein, das Management hatte Marktveränderungen nicht erkannt und verschlafen zu reagieren. Ich war selbst jahrelang Kunde bei Pesch, irgendwann bin ich aber nicht mehr hin, weil man einfach nicht gut behandelt wurde. Es war ein arrogantes Marktauftreten, was von einer sehr erfolgreichen Marktposition herrührte.

Die digitale Transformation ist nicht das Heil.Michael Prothmann

DROID BOY: Hätte das Internet da irgendwie helfen können? Zum Beispiel Social Media?
Michael Prothmann: Nein, Social Media, das Internet, die Digitalisierung ist nie das, was ein Unternehmen rettet. Was ein Unternehmen rettet ist eine gute Marktstrategie. Bei einem grundsätzlich schlechten Management hilft auch Social Media, eine Digitalstrategie oder E-Commerce nicht weiter. Die digitale Transformation ist nicht das Heil für Unternehmenwachstum, Marktanteilseroberungen oder Mitarbeiterbindung.
DROID BOY (verwundert): Aber welche Rolle spielt sie dann? Ist das nicht genau das Versprechen, das sie macht?
Michael Prothmann: Sie spielt eine große Rolle. Unternehmen sind auf dem Markt, um ihre Position zu optimieren, zum Wettbewerb, zu den Partnern, den Mitarbeitern und den Kunden. Das ist übrigens nichts Neues, das mussten Unternehmen schon immer. Jeden Tag neu überdenken, immer wieder in Frage stellen und optimieren. Und hier kommt dann das Thema Digitalisierung ins Spiel, denn alle Wertschöpfungsstufen sind von ihr betroffen. Wenn Ford das Fließband nicht erfunden hätte, dann hätte es jemand anderes getan. Der Markt war da und musste erschlossen werden, in dem man die Nachfrage befriedigte. Unternehmen heute müssen sich überlegen, wo sie ein “digitales Fließband” einbauen können. Und zwar in allen Wertschöpfungsstufen. Darum sind digitale Möglichkeiten unerlässlich, wenn ich mein Unternehmen erfolgreich und für die nachfolgenden Generationen in die Zukunft führen will.

DROID BOY: Wie digital wird die Zukunft sein?
Michael Prothmann: Ich vermute die nächsten 30 Jahre nur weniges. Es gibt nur wenige Firmen, die durch ein rein digitales Geschäftsmodell erfolgreich sind. Das sind meist Startups wie Uber, Airbnb oder Spotify, die durch disruptive Techniken weltweit erfolgreich sind, oder weil sie ein Ökosystem aufbauen, wie Google, Apple oder Amazon. Das sind aber meist Einzelfälle. Für 95% der Unternehmen spielt das keine Rolle für das bestehende Geschäftsmodell und ihre Aufgabe ist es ihr Geschäftsmodell zu optimieren.

DROID BOY: Das heisst es gibt Branchen, in denen das Digitale das Kerngeschäft ist?
Michael Prothmann: Mit der Branche hat das nichts zu tun. Die bezieht sich auf die Unternehmensidee und nicht auf die Umsetzung. Uber, Spotify, Airbnb und so weiter sind ja nicht in der gleichen Branche.
DROID BOY: Das heisst es kann jederzeit ein neues Unternehmen kommen mit einem disruptiven Geschäftsmodell und ein ernst zu nehmender Konkurrent werden, egal in welcher Branche?
Michael Prothmann: Ja, weil der Konkurrent die Marktsituation verändert. Der Konsument will plötzlich etwas anderes. Bill Gates hat mal gesagt: “Banking is necessary, banks are not.” Es gibt Startups, die bieten neue Banking-Services an und verändern damit den Markt, wie zum Beispiel Numbers26 oder Lendico. Eine einzelne Bank steht plötzlich hundert Fintechs gegenüber, die alle einen einzelne Leistung der Bank anbieten. Nur jedes einzelne Startup tut das 100 mal besser und kundennäher als die Bank. Das ist ein Angriff auf das System. Für die Banken bedeutet das, dass sie sich weiter entwickeln müssen, weil sich der Markt weiter entwickelt. Ob sie das nun gut finden oder nicht.

Daten sind mehr denn je Grundlage für unternehmerische Entscheidungen.Michael Prothmann

DROID BOY: Okey, aber dann habe ich ein anderes gutes Beispiel. Den Kühlaggregate-Produzenten aus dem Bergischen Land. Ein mittelständisches Unternehmen, das weltweit in 20 Länder exportiert. Seine Auftragslage ist stabil, wenn die Wirtschaft der Chinesen und der Südamerikaner boomt, wenn die Rohstoffe günstig sind, dann profitiert er. Und dann bekommt er einen Brief von der IHK und da steht: Wappnen Sie sich für die Digitalisierung! Klingt nach einer guten Idee, nur das sie ihn überhaupt nicht interessiert.
Michael Prothmann: Aber glauben Sie wirklich er muss keine Angst vor der Digitalisierung haben?
DROID BOY: Ja! Würde er hier mit uns im Raum sitzen, ich wüsste nicht, wovor ich ihn warnen müsste.
Michael Prothmann: Seine Aufgabe ist es die Position seines Unternehmens im Markt zu verbessern. Das er das Angebot der IHK nicht annimmt, kann ich zugegebenermaßen verstehen, denn die Informationsangebote sind recht ungenau.

Ein Appell an das deutsche Unternehmertum

DROID BOY: Dem deutsche Mittelstand geht es einfach zu gut, als das sie sich irgendwie bewegen müssten. Die Frage ist nur, wie sie mitbekommen, das sich der Markt ändert. Sonst enden sie wie Pesch.
Michael Prothmann: Absolut. Und darum müssen wir an das Unternehmertum in Deutschland appellieren: Schaut wie ihr eure jetzige Position am Markt durch die neuen Mittel der Digitalisierung verbessern könnt. Wenn ihr es nicht tut, dann tut es vielleicht jemand anderes. Oder es kommt ein Startup und verändert sogar den ganzen Markt. Dazu kommt aber auch das, was nicht von den Unternehmen, sondern von Politikern getan werden muss: Wir brauchen eine bessere Infrastruktur, also mehr Breitbandausbau damit der Mittelstand im Bergischen Land auch Internet hat, ein auf die Digitalisierung ausgerichtetes Ausbildungswesen und bessere Fortbildungsmöglichkeiten in Unternehmen.
Was macht der Wettbewerb? Das ist eine ständige Marktbeobachtung und Weiterentwicklung. Die Geschwindigkeit, mit der sich Märkte verändern, hat global durch die Digitalisierung zugenommen. Dabei können einem dann auch zum Beispiel Daten helfen, die mehr denn je Basis von unternehmerischen Entscheidungen sind. Daten sind mehr denn je Grundlage für unternehmerische Entscheidungen. Daten sind der neue Rohstoff.

DROID BOY: Das klingt gut, aber wie kann man so ein Denken in ein Unternehmen injizieren?
Michael Prothmann: Digitalisierung ist Chefsache. Wenn der das nicht will, macht es nicht viel Sinn.

DROID BOY: Vielen Dank für das Interview!

Das Interview wurde am 23. November 2015 um 16 Uhr in den Moltkehöfen in Köln geführt.

Dieser Text erschien auch auf Medium.com

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